Beim Schreiben meiner technischen Texte hänge ich stark von der Zuarbeit
meiner Informationslieferanten ab. Und weil es immer wieder mal Zeiten gibt,
in denen diese Entwicklungsingenieure usw. Dringenderes zu tun haben als einem
technischen Redakteur Fragen zu beantworten oder seine Texte zu korrigieren,
gibt es immer mal wieder Leerlauf. Diese Wartezeiten wollte ich früher mal
bei Wikipedia sinnvoll nutzen. Mittlerweile ließ ich meinen Wikipedia-Account
aus Protest löschen.
Das Beispiel Wikipedia-Artikel Rauschzahlmessung
Ich arbeitete gerade bei einem Messgeräte-Hersteller und obige Situation
trat ein. Also stöberte ich mal wieder bei Wikipedia und stolperte über die
Seite Gewünschte Seiten. Einer der Einträge über besonders
dringend gewünschte Seiten hieß Rauschzahlmessung. Rein zufällig
beschäftigte ich mich gerade mit diesem Thema, weil mein Kunde solche Messungen
unter erschwerten Randbedingungen machen wollte. Unter den Unterlagen, die ich
auf dem Schreibtisch bzw. im Intranet des Kunden zur Verfügung hatte, war
sicher die eine oder andere Promotion zum Thema. Als Funkamateur wusste ich auch
um einige weitere Zusammenhänge.
Also ging ich frisch an's Werk: Wie bei einem Wiki üblich meldete ich mich an
und klickte ich auf den roten Link. Nach 10 min speicherte ich die ersten zwei
Bildschirme voll. Zugegeben: Darin hatte ich nur beschrieben, in welchem
technischen Umfeld diese Messungen gemacht werden und warum diese Messungen gar
so genau sein müssen und so besonders schwierig sind.
Weitere 10 min später wollte ich mein Werk wieder abspeichern, das ging aber nicht:
Der Seiteneditor hing in der Luft, weil in der Zwischenzeit einer der berüchtigten
Wikipedia-"Blockwarte" mir die Seite unter dem Hintern weggelöscht hatte: Ich
solle gefälligst erst mal einen Entwurf in meinem privaten Bereich machen und den
dann zur Diskussion stellen. Dann würde er vielleicht darüber entscheiden, ob ich
den Artikel veröffentlichen dürfe. Wo kämen wir denn hin, wenn da jeder
Nobody einfach Artikel veröffentlichen dürfe.
Ich empfand dieses Vorgehen als Vandalismus: Es ist ja richtig, dass Qualitätssicherung
sein muss. Aber dafür gibt es in einem Wiki Mechanismen. Aber wenn jemand einen
Artikel schreibt und sein erster Entwurf irgendwie sinnvoll sein könnte, dann
kann man doch erst mal ein paar Tage warten und beobachten, wie der Artikel reift.
Ich konnte keinerlei Einsicht wecken, dass das Verhalten des Wikipedia-Aktivisten
zumindest sehr rüde war. Das war dann das Ende meines Wikipedia-Accounts. Dafür gibt es
den entsprechenden Artikel jetzt hier in der Website. Selber schuld...
Das Beispiel Wikipedia-Artikel Quarzofen
Bei einer anderen Gelegenheit stieß ich auf den Artikel
Quarzofen,
in dem einiger Unsinn stand. Da wurde beispielsweise behauptet, in einem
Transistor erzeugte Wärme sei irgendwie anders als in einem Widerstand erzeugte
Wärme. So recht glücklich waren die Betreuer damit nicht, entsprechend war der
Artikel markiert.
Also schrieb ich einen mehr oder weniger neuen Artikel mit der Quintessenz:
- Ein Quarzofen ist ein thermisch isoliertes Gebilde, in dem ein Signalerzeuger
(Oszillator) bei einer stabilisierten Temperatur von typisch 75°C arbeitet,
um eine möglichst stabile Frequenz zu erzeugen. Das primär frequenzbestimmende
Element ist dabei ein Schwingquarz, deshalb der Name des Gebildes. Die 75°C
kämen entscheidend daher, dass es in Röhrengeräten ziemlich warm sei und
die Temperatur durch eine Heizung stabilisiert werden sollte.
- Auch ein Schwingquarz hat einen Temperaturgang. Deshalb wird die Ofentemperatur
mit dem Quarzhersteller abgestimmt, um die Nenntemperatur in einen Wendepunkt
des Temperaturgangs zu legen.
- Quarzöfen waren vor allem in der Röhrenzeit üblich. Heute arbeitet man statt
dessen vorzugsweise mit externen Normalen wie z.B. GPS-Signalen. Oder, das
beschrieb ich nicht: Man synchronisiert Uhren mit dem bekannten Langwellensender
DCF77.
Zugegeben: Ich hätte dem Ganzen noch einen Satz mit einer kurzen, knackigen Definition
voranstellen können. Aber das hätte auch gerne der nächste Bearbeiter tun können.
Statt dessen wurde mein Artikel in der Luft zerrissen und als Begründung mit Ausdrücken
wie Lemma um sich geworfen. Das Ergebnis: Statt meinem Hinweis auf den
Wendepunkt im Temperaturgang des Schwingquarzes steht da jetzt: Als Quarzschnitte für
die im Ofen eingesetzten Quarze kommen der AC-Schnitt und SC-Schnitt zur Anwendung.
Und der Unsinn, dass mit Transistoren erzeugte Wärme besser sei als mit Widerständen
erzeugte, steht auch wieder drin. Zwar erscheint im Artikel eine Liste mit Genauigkeitsdaten
von GPS, wobei hier die um eine Größenordnung bessere Langzeitstabilität aufgeführt
wird. Aber dass man bei wirklich genauen Messungen eben solche externen Normale
benutzt, steht nicht mehr da. Soll ich noch hinzufügen, dass es heute so etwas wie
kalte Quarzöfen gibt, bei denen die Wärmeisolierung nur dazu dient,
Kurzzeitschwankungen zu unterdrücken? Für die Langzeitstabilität ist das externe Normal
verantwortlich.
Das Beispiel Wikipedia-Artikel Amateurfunkdienst
Für einen langjährigen Funkamateur hat diese Artikel so manche Schwächen. Besonders
ärgerte mich im Kapitel Modulationsarten, Betriebsarten und Übertragungsarten der Abschnitt
über das Morsen. Also schrieb ich ihn neu. Mein Text wurde auch über Monate praktisch
unverändert gelassen, obwohl er (als Vorbereitung auf diesen Artikel) eine bewusst unbewiesene
Behauptung enthält: Speziell bei Selbstbauern ist Morsen weiterhin sehr beliebt,
weil man mit sehr einfachen Geräten (den Sender muss man nur ein- und ausschalten können)
und sehr geringen Empfängerbandbreiten (200 Hz gegenüber mindestens 2100 Hz bei Sprechfunk)
arbeiten kann. Das mag ja für manchen, der noch eine Morseprüfung machen musste,
Motivation zum Auffrischen seiner Morsekenntnisse sein. Aber die Morserei wird sicher
mit den einschlägig ausgebildeten Funkamateuren weitgehend aussterben, dafür ist der
Lernaufwand (mehrere 100 Stunden für ein praxistaugliches Tempo) zu hoch. Und die Selbstbauer
sind mittlerweile sowieso eine kleine Minderheit – dafür sind heute kommerzielle Funkgeräte
zu gut, zu vielfältig und zu billig.
Das Beispiel Wikipedia-Artikel Kraftwerk
Nach dem oben erwähnten Messgeräte-Hersteller arbeitete ich bei einem der großen
deutschen Stromerzeuger. Dort beschäftigte ich mich mit großen Steinkohle-Kraftwerken.
Gelegenheit, sich die einschlägigen Wikipedia-Artikel anzusehen.
Auch da wurde ich natürlich fündig: Unter
Technische Verfahren findet sich wieder eine recht eigenwillige Definition
eines Wasserkraftwerks: In Wasserkraftwerken treibt die Bewegungsenergie von zuvor
gestautem Wasser eine Wasserturbine und diese den Generator. Das beschreibt aber nur
einen kleinen, eher nebensächlichen Aspekt eines Wasserkraftwerks. Primär geht es doch
um folgendes: Mit der Staumauer
wird das Wasser aufgestaut, um die potentielle Energie nutzen zu können – also dass das
Wasser über eine bestimmte Höhe herunterfällt und dabei Arbeit leistet. Ja: Beim
Herunterfallen wird das Wasser beschleunigt und treibt so das Turbinenrad an.
Meine entsprechende Korrektur flog wieder raus...
Fazit
Um Wikipedia hat sich ein soziales Biotop mit eigenen Regeln gebildet. Diese Gemeinschaft
mag ja ihre Verdienste haben, hat aber ganz klare Grenzen:
- Wer sich den Regeln dieser Gemeinschaft nicht anpasst, hat schlechte Chancen mit
seinen Beiträgen. Das verschließt Wikipedia eine Menge Sachverstand: Ich bin sicher
nicht der einzige Know-How-Träger, der mittlerweile nichts mehr zu Wikipedia beiträgt.
- Mancher Wikipedia-Aktivist hat sicher mehr Engagement als Sachverstand.
Also wird Wikipedia künftig eher den Weg gehen müssen, auf meine Website zu verlinken.
Siehe Wikipedia-Artikel "USB".
Verweise
- Diskussion bei Heise.de
- Beispiel für meinen Einsatz des Begriffs "Blockwart"
- Diskussion bei Heise.de
- Diskussion über die soziale Kompetenz mancher Wikipedia-Aktivisten
- Heise Online: Kritischer Standpunkt: Wikipedia und das vorläufige Wissen
- Die Teilnehmer der Konferenz Wikipedia – ein kritischer Standpunkt in Leipzig stellten der
Online-Enzyklopädie ein durchwachsenes Zeugnis aus
- Heise Online: Kritischer Standpunkt: Wie offen ist Wikipedia?
- "die engagierten Aktivisten [schotten sich] von der Außenwelt ab."
- Heise online: Wikipedia wirbt um Wissenschaftler
- Vor allem die umfangreiche Diskussion des Beitrags ist interessant.
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